Anamese und Befund
In der Beckenbodentherapie ist, wie in der ganzen Physiotherapie, die Anamnese und Befunderhebung sehr wichtig – das heißt die Befragung des Patienten oder der Patientin und die Untersuchung. Das heißt, wir haben erstmal eine Menge Fragen. Wir wollen wissen, seit wann und was genau für Beschwerden da sind. Uns interessieren Arztbefunde und Diagnosen. Welche Medikamente genommen werden und ob bereits irgendwelche Operationen durchgeführt wurden. Was der Beruf ist, welchen Hobbys nachgegangen wird und ob es privat oder beruflich größere Belastungen gibt. Ob Schmerzen auftreten, was gut tut oder was das Problem verschlechtert. Bei Frauen auch, ob Kinder zur Welt gebracht wurden, wie viele und ob es dabei Verletzungen oder Komplikationen gab. Ob es weitere Erkrankungen gibt und was für den Patienten/die Patientin das Ziel der Behandlung ist. Weitere Fragen ergeben sich meist im Gespräch.
Außerdem wollen wir in der Beckenbodentherapie etwas über das Trink- und Toilettenverhalten wissen. Die Trinkmenge pro Tag, die Anzahl der Toilettengänge, Neigung zu Verstopfung oder Durchfall, Vorhandensein von Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder die Benutzung von Inkontinenzartikeln wie Vorlagen oder Slipeinlagen.
Die Menge lässt sich schwer schätzen – also bitte messen
Viele Leute wissen nicht genau, wie viel sie trinken, wie oft sie zur Toilette gehen und schon gar nicht, wie viel dann in ihrer Blase ist. Deshalb ist eine der ersten ‚Hausaufgaben‘ meist ein sogenanntes Miktionsprotokoll. Darin wird festgehalten, wann wieviel von welchem Getränk getrunken wurde und wann die Blase entleert wurde. Und es muss gemessen und aufgeschrieben werden, wie viel jeweils in der Blase war. Zusätzlich sollte angegeben werden, wie stark der Harndrang, also das Bedürfnis die Blase zu entleeren, vor dem Toilettengang war. Sollte es zum Urinverlust kommen, wird notiert, in welcher Situation das war und wie viel Urin verloren gegangen ist. Bei stärkerer Inkontinenz sollten die Vorlagen gewogen werden, um die Menge des Urinverlusts zu bestimmen.
Das ist ganz schön aufwendig, aber es lohnt sich! Das Miktionsprotokoll sollte mindestens einen Tag, am besten 3 Tage lang geführt werden. Im Zweifelsfall sagt es einem nur, dass in diesem Bereich alles in Ordnung ist. In vielen Fällen ist es für Therapeut*in und Patient*in aber sehr aufschlussreich.
Die Auswertung ist oft spannend
Ich sage meinen Patient*innen vorher meistens absichtlich nicht, was eine normale Blasenfüllung ist, damit sie das Protokoll unvoreingenommen ausfüllen können. Und ich bin immer sehr gespannt, das Tagebuch dann zu sehen, weil es oft sehr erhellend ist und für die Therapieplanung äußerst nützlich.
In vielen Fällen sind es nur Kleinigkeiten, die beachtet werden sollen. Zum Beispiel, dass eine große Trinkmenge am Abend fast unweigerlich dazu führt, dass man nachts aufstehen muss, um die Blase zu entleeren. Oder, dass eine Trinkmenge von weniger als einem Liter pro Tag doch etwas wenig ist. Andere sind erstaunt, dass sie doch mehr trinken, als sie vermutet hatten.
Auffälligkeiten gibt es in alle Richtungen. Wie so oft in der Medizin gilt, es gibt nichts, was es nicht gibt. Eine ’normale‘ Füllmenge liegt zwischen 300-500 ml, ist aber individuell verschieden. 250 ml oder auch 650 ml müssen nicht problematisch sein. Das kommt auf das Gesamtbild an. Viele sind erstaunt, wenn sie sehen, dass ihre Blase über Nacht oder wenn sie längere Zeit auf dem Sofa sitzen, vielleicht 450 ml speichern kann, sie tagsüber aber gerne schon bei 200 ml zur Toilette gehen. Vorsichtshalber, um einen Urinverlust zu vermeiden. Das funktioniert so leider nicht auf Dauer. Wer häufig ‚vorsichtshalber‘ seine Blase entleert, bringt ihr bei, sich immer früher zu melden und immer weniger gut zu füllen. Wenn man das in Ausnahmefällen macht, kommt die Blase damit durchaus zurecht. Aber viele Leute verlassen ihre Wohnung nicht, ohne vorher auf die Toilette zu gehen. In Extremfällen reicht es dann nicht mehr aus, nur einmal zu gehen. Das sollte man weder sich selbst noch seinen Kindern angewöhnen.
Schon gehen oder noch warten?
Wer unter Belastungsinkontinenz leidet, neigt zu diesen Vorsorgeentleerungen. Um festzustellen, ob die Blase tatsächlich eine gute Füllmenge hat, wenn man das Bedürfnis hat sie zu entleeren, braucht es das Blasentagebuch. Ohne zu messen, lässt sich kaum einschätzen, wie voll – oder leer – die Blase war. Wer also das Gefühl hat, ohne entleerte Blase Angst vor Husten, Niesen oder dem Trampolin haben zu müssen, sollte seinen Beckenboden trainieren, aber nicht auf Dauer verfrüht zur Toilette gehen.
Ein noch häufigerer Grund für häufige Toilettengänge, ist eine überaktive Blase auch Drangblase oder Drangproblematik genannt. Diese kann mit oder ohne Inkontinenz auftreten und kommt auch häufig als Mischinkontinenz zusammen mit einer Belastungsinkontinenz vor. Eine überaktive Blase (OAB) kann verschiedene Ursachen haben. In vielen Fällen lässt sich die Ursache allerdings nicht feststellen. Zur Behandlung gibt es ebenfalls verschiedene Methoden. Medikamente zur Entspannung der Blase, Botoxinjektionen mit dem selben Zweck, Stromtherapie zur Beeinflussung über die Nervenbahnen und anderes. Eine Behandlung ohne Nebenwirkungen, die aber in vielen Fällen hilfreich ist, ist Aufklärung über die Zusammenhänge (Edukation) und Verhaltenstherapie, die im Rahmen der Beckenbodentherapie stattfinden kann. Bei einer Mischinkontinenz gleich in Verbindung mit Kräftigung. Auch Entspannungsübungen sind oftmals ein wichtiger Teil der Therapie.
Wann der Drang nicht mehr normal ist
Patienten mit Drang, spüren nicht einfach, dass ihre Blase langsam voll wird und es Zeit wird sich innerhalb der nächsten halben Stunde oder so eine Toilette zu suchen. Normalerweise sind Toilettengänge alle 2-3 Stunden notwendig, je nach individueller Füllmenge und der Trinkmenge. Nach einem halben Liter Kaffee kann es schon mal früher nötig sein, wer im Sommer oder beim Sport stark schwitzt, muss vielleicht nach 4 Stunden noch nicht. Bei einer überaktiven Blase kommt der Harndrang allerdings überfallartig, übermäßig stark und meist nicht abhängig von der tatsächlichen Blasenfüllung. Er lässt sich kaum halten und stresst die Betroffenen sehr. Der sogenannte Haustürdrang kommt besonders häufig vor. Die Patient*innen sind oft problemlos längere Zeit im Auto oder in der Stadt unterwegs, die Blase ist völlig entspannt, aber mit dem Aussteigen aus dem Auto oder dem Betreten der Wohnung meldet sich die Blase. Alles wird fallen gelassen und zur Toilette geeilt, trotzdem lässt sich der Urin bei vielen nicht mehr zurückhalten. Je höher der Stress, desto schlimmer wird es meist.
Der extremste Fall in meiner Praxis, war eine Patientin, die alle 10 Minuten zur Toilette musste, weil der Drang so übermäßig war, dass sie Angst hatte, sonst Urin zu verlieren. Sie hatte keine Blasenentzündung. Ihr Fall war in der Behandlung dann eher unkompliziert. Nachdem wir das Protokoll besprochen und die Zusammenhänge erklärt hatten, bekam sie ein paar Verhaltensmaßnahmen beim Auftreten des Drangs von mir und das Problem war innerhalb weniger Tage verschwunden. Meist dauert das etwas länger.
Ohne Protokoll ist eine Einschätzung schwer
Ein weiterer extremerer Fall war ein Mann, der nach einer Prostata-OP inkontinent war. Er gab an sowohl bei Belastung Urin zu verlieren, als auch unter Drang zu leiden. Er kam zum 2. Termin mit ausgefülltem Protokoll und berichtete gleich, dass er am Tag der Messung wieder ein großes Problem mit dem Drang gehabt hatte. Er war um 17.00 Uhr bei einer Trauerfeier, musste mittendrin auf Toilette, musste jedoch warten, bis er nach Ende der Trauerfeier um 18.00 Uhr endlich gehen konnte. Mein erster Gedanke war, dass abends die Kraft oft nachlässt, aber 1 1/2 Stunden eigentlich machbar sein sollten. Beim Lesen des Blasentagebuches wurde die Ursache der ‚Drangproblematik‘ dann ersichtlich. Der Patient hatte mittags um 13.00 Uhr zuletzt seine Blase entleert und dann nach der Trauerfeier eine Blasenfüllung von 1000 ml, also 1 Liter! Da hatte seine Blase durchaus Grund sich mit Nachdruck bemerkbar zu machen.
Hilfe suchen
Wer Probleme mit seiner Blase hat, sollte in jedem Fall erst einmal mit einem Arzt reden. Das können der Hausarzt, der Urologe oder der Gynäkologe sein. (Und sowohl hier, wie auch sonst im Text, habe ich die männliche Form nur der Lesbarkeit wegen gewählt, die Hausärztin, die Urologin oder die Gynäkologin sind selbstverständlich auch gemeint.) Dann wird entschieden und besprochen, welche Art der Behandlung sinnvoll ist und eventuell Physiotherapie verordnet. Wem sie nicht angeboten wurde, kann ja nachfragen, warum nicht. Vielleicht ist es einfach in diesem Fall nicht die passende Therapie, vielleicht hat der Arzt nur nicht daran gedacht. Passende Therapeut*innen gibt es zum Beispiel unter http://www.ag-ggup.de/therapeutenliste .
Lucia Sollik Physiotherapeutin Beckenbodentherapie
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Tolle Beiträge
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