Immer wieder liest man bzw. frau in Zeitschriften von Tipps, mit welchen Übungen sich der Beckenboden am besten kräftigen lässt. Ärzt*innen geben ihren Patientinnen Faltblätter mit Übungen mit oder empfehlen den Beckenboden einfach immer an roten Ampeln anzuspannen und auch im Internet finden sich unzählige Seiten mit Tipps zu Übungen und für den Alltag. Das erweckt den Anschein, als wäre Beckenbodenkräftigung keine schwierige Sache.
Probleme sind weit verbreitet
Trotzdem gibt es viele Frauen (und auch Männer), die mit der Kraft ihres Beckenbodens Probleme haben. In Deutschland leiden ungefähr 10 Millionen Menschen an Inkontinenz. 30-50% aller Frauen bekommen irgendwann eine Gebärmuttersenkung. Ein kräftiger Beckenboden kann in vielen Fällen helfen, die Symptome zu verringern oder sogar ganz zu beseitigen. Wie kommt es, dass diese Zahlen so hoch sind, wenn es doch angeblich reicht, den Beckenboden zwischendurch mal anzuspannen oder Brücke und ähnliches zu üben, um einen fitten Beckenboden zu bekommen?
Warum wird es so nicht besser?
Immer wieder erzählen mir Patientinnen und Patienten, dass sie gar nicht wissen, wie sie ihren Beckenboden anspannen sollen.
Immer wieder kommen Frauen und Männer zu mir in die Behandlung, die frustriert sind, weil sie Übungen für ihren Beckenboden machen, aber keine Verbesserung ihrer Symptome eintritt.
Und immer wieder höre ich von Ärzt*innen, die nichts von Physiotherapie bei Inkontinenz, Organsenkung und anderen Problemen rund um den Beckenboden halten, keine Verordnungen ausstellen wollen und lieber zu einer Operation raten oder eben der Meinung sind, dass ein Faltblatt mit Übungen ausreicht.
Was macht eigentlich der Beckenboden?
Wenn der Beckenboden gesund und kräftig ist und keine Probleme oder Verletzungen im Beckenbereich vorhanden sind, arbeitet er, ohne dass wir davon viel Notiz nehmen. So wie Vieles in unserem Körper im Alltag unbewusst abläuft, sind uns die Funktionen unseres Beckenbodens selten bewusst, so lange er sie erfüllt. Wir müssen ihm dann keinen extra Auftrag geben und trotzdem reagiert er auf Belastung, wenn wir heben, tragen, husten oder niesen. Er sorgt für die Kontinenz unserer Blase und unseres Darmes, er ermöglicht aber auch deren Entleerung. Er stabilisiert unser Becken bei jedem Schritt, er ermöglicht eine erfüllte Sexualität, lässt uns Kinder zur Welt bringen und ist selbst bei jedem Atemzug mit aktiv.
Wenn er geschwächt ist, merken wir das meist erst, wenn es bei einer oder mehrerer dieser Dinge Probleme gibt. Schwache Muskulatur, die eben nicht so aktiv ist, ist auch automatisch nicht so gut wahrnehmbar. Wo nicht viel Aktivität vorhanden ist, gibt es nun mal auch nicht viel zu spüren. Und sowieso kann nur ein Drittel aller Frauen ihren Beckenboden problemlos spüren und anspannen. Das sind dann diejenigen, die vermutlich tatsächlich mit einem Faltblatt mit Übungen auskommen. Denn ein Faltblatt kann nicht individuell dabei helfen, den Beckenboden spüren zu lernen. Die Beckenbodentherapie beginnt deshalb meist damit, zu lernen wo der Beckenboden ist und wie er funktioniert. Und dann wird versucht die Wahrnehmung Stück für Stück zu verbessern. Nur was ich gut wahrnehmen kann, kann ich auch lernen zu kontrollieren. Erst dann kann es mit der gezielten Kräftigung losgehen. Zwei Drittel aller Frauen brauchen dafür mehr oder weniger viel Unterstützung.
Ich übe doch regelmäßig und es wird trotzdem nicht besser
Wer regelmäßig Übungen macht, aber keinen Erfolg damit hat, braucht einen Therapeuten oder eine Therapeutin, die überprüft, woran das liegt. Verschiedene Ursachen sind möglich. Oft ist einfach die Intensität zu gering. Wer fit werden will für einen Marathon, weiß, dass Spazieren gehen als Training nicht genügt. Wer im Fitnessstudio mit dem Training aufhört, sobald es anfängt anstrengend zu werden oder nie die Gewichte erhöht, kann keine Kraftsteigerung erwarten. Das Gleiche gilt auch für den Beckenboden. Um eine Kräftigung zu erreichen, brauche ich Übungen, die die Muskulatur fordern und an die Belastungsgrenze bringen. Die Übungen müssen also intensiv genug sein, häufig genug wiederholt werden, regelmäßig gemacht werden und zwar über längere Zeit und außerdem immer wieder gesteigert werden. So wie bei jedem anderen Krafttraining eben auch. (Nur ohne Gewichte.)
Manchmal liegt das Problem aber nicht in der Intensität des Übens, sondern daran, dass die Übungen nicht korrekt ausgeführt werden und sogar die gegenteilige Wirkungen haben können. Wer keine gute Wahrnehmung für den Beckenboden hat, kann oft auch nicht unterscheiden, ob die Muskulatur angespannt, bzw. aktiviert wird oder ob ein Druck nach unten ausgeübt wird. Und selbst wenn beim Üben der Beckenboden korrekt arbeitet, kann es sein, dass im Alltag bei Belastung der Druck trotzdem nach unten aufgebaut wird. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Beckenboden und Bauchmuskulatur ist wichtig. Deshalb ist die Umsetzung der Beckenbodenaktivität in den Alltag ist ein wichtiger Teil der Behandlung.
Tägliches Üben ist zur Kräftigung wichtig. Wenn der Beckenboden jedoch nicht gelernt hat die gewonnene Kraft im Alltag einzusetzen, wird sich langfristig voraussichtlich keine große Verbesserung einstellen. Wer zum Beispiel nach einer Hüftoperation wieder ohne Ausweichen und Humpeln gehen können will, darf nicht nur Übungen im Liegen machen. Das kräftigt zwar ebenfalls die Hüftmuskulatur, aber nur beim Üben im Stehen und Gehen lernt sie, das Becken stabil zu halten. Ein schwacher Beckenboden hat in vielen Fällen verlernt, seine Funktionen im Alltag zu erfüllen. Das muss er wieder lernen.
Dauerspannung und ‚Viel hilft viel‘
Wiederum neigen viele Patientinnen und Patienten, die Probleme mit Inkontinenz oder Organsenkung haben dazu, dass sie unbewusst oder bewusst eine Dauerspannung aufbauen. Der Beckenboden soll durchgehend ‚halten‘. Das führt zu einer Verkrampfung der Muskulatur und dazu, dass sie ihre Aufgaben noch schlechter erfüllen kann, denn verkrampfte Muskulatur kann nicht auf Belastung reagieren und hat oft auch Schwierigkeiten sich wieder zu entspannen und die Entleerung gut zu ermöglichen. So lange eine Neigung zu solch einer Verkrampfung besteht, muss erst an der Entspannungsfähigkeit gearbeitet werden, bevor es mit der Kräftigung losgehen kann.
Besonders Männer nach Prostatektomie brauchen anfangs hin und wieder den Hinweis, dass nicht immer ‚viel hilft viel‘ gilt. Die Übungen sollen anstrengen, müssen aber Stück für Stück gesteigert werden. Wer zu Beginn zu viel macht, riskiert eine Verkrampfung der Muskulatur und wer dem Beckenboden keine Ruhephasen gönnt, wundert sich, warum gegen Abend die Inkontinenz schlimmer wird. Geduld und Ausdauer für das Üben aufzubringen ist meist die schwierigste Aufgabe.
Warum bekomme ich keine Physiotherapie verordnet?
Darüber, warum so viele Ärzt*innen keine Physiotherapie bei Problemen rund um den Beckenboden verordnen, kann ich nur spekulieren. Vielleicht weiß der Arzt oder die Ärztin gar nicht, wie effektiv eine Behandlung bei spezialisierten Beckenbodentherapeut*innen sein kann und bei welchen Problemen und Erkrankungen wir helfen können. Vielleicht hat er oder sie seine Facharztausbildung in einer Klinik ohne Beckenbodenzentrum gemacht und hat deshalb keine Erfahrung damit. Vielleicht gibt es in der Gegend gar keine spezialisierten Physiotherapeut*innen. Vielleicht hatte der Arzt oder die Ärztin früher Krankengymnastik verordnet, es wurde aber mangels Wissen nur eine 08/15-Behandlung gemacht, so dass er denkt, die Physiotherapie wäre nutzlos. Vielleicht kennt er die Empfehlungen und die positive Studienlage nicht, denn es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Studien, die die Effektivität von Beckenbodentherapie belegen. Vielleicht hat er aber einfach Angst vor Regress und will sein Budget nicht belasten. Vielleicht kann man in so einem Fall seinen Arzt oder seine Ärztin einfach nach dem Grund fragen. Zumindest eine Überweisung an ein Beckenbodenzentrum sollte möglich sein.
Ist Kräftigung nötig, wenn eine OP geplant ist?
Selbst wenn langfristig eine Operation nicht immer vermeidbar ist, sollte eine Beckenbodenkräftigung möglichst immer vorher angestrebt werden. Je fitter die Muskulatur, desto besser lässt sich das Operationsergebnis später erhalten. Denn eine Operation kann nur die passiven Strukturen reparieren, die Kraft und Funktion wird dadurch nicht verbessert.
Elektrotherapie oder Biofeedback kann in Kombination mit Physiotherapie eine gute Unterstützung der Therapie sein. Der Arzt/die Ärztin kann ein Gerät für zu Hause verordnen.
Kräftigung durch Sport?
Immer wieder kommt die Frage, ob Trampolinspringen oder Reiten nicht gut sei zur Kräftigung des Beckenbodens. Hier muss man aufpassen, dass man die automatische Reaktion eines gesunden Beckenbodens und die oft verlangsamte oder nahezu fehlende oder in die falsche Richtung laufende Reaktion eines geschwächten oder geschädigten Beckenbodens unterscheidet. Normalerweise reagiert er auf jede Belastung mit entsprechender Aktivität, dass heißt auch beim Trampolinspringen und Reiten ist er aktiv. Wenn ihm diese automatische Reaktionsfähigkeit jedoch aufgrund einer Schwäche oder Verletzung fehlt, dann wird er bei solch einer Belastung einfach nur belastet und nicht gekräftigt.
Ist mein Beckenboden fit oder schwach?
Wer selbst herausfinden möchte, ob sein Beckenboden Kraft hat und gut reagiert oder eben nicht, kann versuchen das selbst zu testen. Am Einfachsten geht das durch tasten mit zwei Fingern in der Vagina. Dann versucht man die Finger zu umschließen und nach innen/oben zu ziehen. Kommt es zu einer deutlichen und kräftigen Reaktion? Oder ist es nur ein zartes Schließen? Kommt es vielleicht sogar eher zu einem Schieben nach unten? Wie reagiert die Muskulatur beim Husten?
Empfehlenswert ist bei allen Problemen rund um den Beckenboden Physiotherapie bei spezialisierten Therapeut*innen. Zu finden zum Beispiel unter http://www.ag-ggup.de/therapeutenliste.
Zur besseren Lesbarkeit habe ich meist die maskuline Form gewählt. Natürlich sind alle Geschlechter gemeint.
Lucia Sollik Physiotherapeutin Beckenbodentherapie
Hat dir der Artikel gefallen? Dann freue ich mich über ein ‚Gefällt mir‘ oder einen Kommentar.