Sexualität als Thema in der Physiotherapie?

Darum und was genau der Beckenboden eigentlich mit Sexualität zu tun hat, geht es in diesem Artikel. Die kurze Antwort auf die 2. Frage lautet: ziemlich viel! Wenn alles funktioniert, ist vielen allerdings gar nicht bewusst, was die Muskulatur des Beckenbodens alles tut, wenn wir Sex haben. Aber nicht nur der Beckenboden ist hierbei wichtig.

Über unsere eigene Sexualität sprechen wir meist nur selten und nur mit wenigen anderen Menschen. Darauf, wie wir uns verhalten und bewegen, wie wir atmen und welche Muskeln wir anspannen, achten die wenigsten von uns beim Geschlechtsverkehr und bei der Masturbation bewusst. Solange alles zur Zufriedenheit aller Beteiligten funktioniert, besteht dazu auch oft kein Anlass. Wenn es allerdings zu Problemen kommt, ist es gut zu wissen, dass es Ansprechpartner*innen gibt, die sich damit auskennen.

Man lernt nie aus

Noch etwas dazu lernen kann, was den eigenen Körper und die Sexualität angeht, wahrscheinlich jeder von uns. Das Buch ‚Make More Love‘ von Ann-Marlene Henning ist (neben weiteren guten Büchern zum Thema) eine Möglichkeit, sich entspannt mit dem Thema zu befassen. Denn so aufgeklärt, wie gemeinhin gedacht, sind viele Menschen leider nicht. Und wer mit seinem eigenen Körper nicht gut klar kommt, nicht weiß, was ihm/ihr gefällt und Hemmungen hat, sich selbst zu berühren, der wird vermutlich auch in der Sexualität mit dem Partner oder der Partnerin Probleme haben. Manche Frauen haben zum Beispiel ihre Vulva noch nie im Spiegel betrachtet und haben Hemmungen einen Vibrator zu benutzen.

Was in der Sexualität als normal oder erstrebenswert gilt, ist schwer zu sagen. Ich denke, wichtig ist in erster Linie, dass jeder selbst und mit seinem Partner oder seiner Partnerin seine Sexualität so lebt, dass es für beide passt. Für manche reicht ein wenig Kuscheln für erfüllte Zweisamkeit, andere brauchen es akrobatischer. Wenn frau ihren Partner allein mit der Kraft ihres Beckenbodens zum Orgasmus bringen kann, ist das beeindruckend, aber glücklicherweise gibt es für alle, die das nicht können, genügend andere Möglichkeiten für ein erfülltes Sexleben.

Doch viele Menschen haben im Laufe ihres Lebens Probleme, die ihre Sexualität betreffen.

Sexualität als Thema bei Physio- und Ergotherapie?

Physiotherapeut*innen und auch Ergotherapeut*innen haben jeden Tag mit Menschen zu tun, die nach Operationen oder durch Erkrankungen Einschränkungen in einer Körperfunktion oder bei einer Tätigkeit haben oder unter Schmerzen leiden. Das beeinflusst natürlich auch, wie sie ihre Sexualität leben können. Wir sind sicherlich nicht diejenigen, die Betroffenen als erstes einfallen, wenn es um Probleme mit der Sexualität geht, aber manchmal sind wir dafür tatsächlich die richtigen Ansprechpartner*innen.

In der Ausbildung kommt dieses Thema leider nur selten zur Sprache und manch Therapeut*in ist es selbst unangenehm darüber zu reden. Das sollte es jedoch nicht, denn Sexualität ist für viele Menschen ein wichtiger Teil des Lebens, wirkt sich auf die Lebensqualität aus und gehört zum Menschsein einfach dazu.

Unter linktr.ee/coitoergosum redet Ergotherapeutin Katja Stolte darüber, dass auch in der Ergotherapie viel mehr über dieses Thema gesprochen werden muss. Und in der Physiotherapie plädiere ich ebenfalls unbedingt dafür.

In der Beckenbodentherapie sprechen wir Sexualität häufiger an, aber auch im Umgang mit Patient*innen zum Beispiel nach Schlaganfall, einer Hüft- oder Wirbelsäulenoperation oder mit Querschnittlähmung ist es wichtig Tipps und Infos geben zu können.

Orthopädie und Neurologie

Bei orthopädischen Patient*innen geht es vor allem darum, Infos über Belastbarkeit und Wundheilung zu geben und Tipps zu Stellungen, die zum Beispiel weniger belastend sind oder weniger Beweglichkeit oder Kraft erfordern. Dazu finden sich im Internet auch Zeichnungen, allerdings sind die Empfehlungen sehr unterschiedlich. Manche Kliniken versorgen ihre Patient*innen sogar routinemäßig mit diesen Informationen. Da die Operationsmethode sich maßgeblich auf die erlaubten Bewegungen auswirkt, sollten Patient*innen am besten direkt ihren Chirurgen oder ihre Chirurgin fragen, ab wann sie welche Stellungen wieder einnehmen dürfen.

Neurologische Patient*innen brauchen ebenfalls oft eine individuelle Beratung, angepasst an ihre jeweiligen Einschränkungen und sollten während der Rehabilitation das Thema unbedingt ansprechen. Verschiedene Stellungen und auch eine Beratung zu Hilfsmitteln sind oftmals hilfreich.

Ärztliche Abklärung

Für die meisten Probleme rund um Becken, Beckenboden, Geschlechtsorgane und Sexualität ist es sinnvoll zuallererst einen Arzt oder eine Ärztin aufzusuchen. Gynäkolog*innen sind für Frauen gute Ansprechpartner, Urolog*innen besonders für Männer und Hausärzt*innen für alle. Bei manchen Problemen sind vielleicht Sexualtherapeut*innen die beste Hilfe bei anderen Psycholog*innen. Wenn abgeklärt ist, wo genau das Problem liegt, kann entsprechend gehandelt werden. Und Hilfe ist in den meisten Fällen möglich!

Nach der Geburt

Durch eine Geburt verändert sich der Körper einer Frau häufig. Nach einer vaginalen Geburt oftmals mehr als nach einem Kaiserschnitt, doch auch durch die Schwangerschaft kann es zu Veränderungen kommen, die sich später auch in der Sexualität bemerkbar machen können.

Nach Abschluss der Wochenbettphase, wenn gynäkologisch das ‚OK‘ für Sex kommt, fühlen sich manche Frauen noch lange nicht wieder bereit für Sex, speziell mit Penetration. (Es gibt ja noch einige andere Möglichkeit die Zweisamkeit, so sie sich mit Baby im Haus denn ergibt, zu genießen.) Wunde Brüste und Schlafmangel sind ein Faktor, die Hormonlage ein weiterer. Doch auch die Wahrnehmung im Bereich von Vulva und Vagina ist oft noch nicht wieder, wie sie vorher war. Bei einer vaginalen Geburt wird der Nervus pudendus, der diesen Bereich und den Beckenboden maßgeblich versorgt, überdehnt. Je nachdem, wie lange die Geburtsphase gedauert hat, kann es unterschiedlich lange dauern, bis sich dieser Nerv und damit die Wahrnehmung wieder erholt haben.

Nach einem Dammriss oder einem Dammschnitt verursacht die Naht manchmal auch nach einigen Monaten noch Beschwerden. Eine Massage der Narbe kann jede Frau gut selbst durchführen und sie hilft dabei, dass das Narbengewebe weicher wird. Bei größeren Problemen am Besten mit dem Gynäkologen oder der Gynäkologin sprechen.

Wenn die Verletzungen durch die Geburt größer sind, zum Beispiel durch einen Dammriss, bei dem der Schließmuskel des After mit betroffen war, wenn die Beckenbodenmuskulatur in der Tiefe verletzt wurde oder sich eine Senkung entwickelt hat, ist Sex für viele Frauen oft für längere Zeit problematisch. Der Grund können Schmerzen im Narbenbereich, Scham wegen des veränderten Aussehens der Vulva, Angst vor Harn- oder Windinkontinenz sein oder die Penetration ist aufgrund einer Senkung schlichtweg unangenehm. In diesen Fällen braucht es einen verständnisvollen Partner und eine gute ärztliche Unterstützung. Physiotherapie kann hier oftmals sehr hilfreich sein. Frauen, die durch eine schwierige Geburt traumatisiert sind, sollten auch psychologische Hilfe in Anspruch nehmen.

Bei manchen Frauen ist zudem erstmal ein vermehrtes Weitegefühl in der Vagina vorhanden, da sich das Gewebe dort bei der Geburt ebenfalls extrem dehnen musste. Wenn die Beckenbodenmuskulatur zudem geschwächt ist, fehlt beim Geschlechtsverkehr manchmal schlicht der Kontakt und die Reibung. Der, finde ich, etwas unschöne Begriff für dieses Symptom ist ‚Lost Penis Syndrom‘. Er beschreibt, dass der Mann durch die fehlende Enge seinen Penis nicht gut spüren kann und dadurch seine Erektion verlieren kann. Das Problem wirkt sich allerdings auf beide Partner aus, da auch die Frau durch den fehlenden oder reduzierten Kontakt weniger spürt und ein Orgasmus beim Geschlechtsverkehr dadurch stark erschwert oder unmöglich ist. Dieses Problem kann ebenfalls durch eine generelle Schwäche der Beckenbodenmuskulatur und auch im Zuge der Hormonumstellung durch die Wechseljahre auftreten.

Auch bedingt durch die Hormonlage kann sowohl in der Stillzeit als auch durch die Menopause die Scheide trockener sein, da die Schleimhäute auf die Veränderungen reagieren. Durch Beckenbodentraining hat man zwar einen gewissen Einfluss darauf, aber das reicht nicht immer. Ein Gleitgel ist hier auf jeden Fall empfehlenswert. Zudem können in einigen Fällen ein hormonhaltiges Zäpfchen oder eine Salbe helfen. Das sollte natürlich ärztlich abgeklärt werden.

Die beste Maßnahme mit den wenigsten Nebenwirkungen ist aber mit Sicherheit das Beckenbodentraining. Eine gezielte Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur, mit Hilfe eines Rückbildungskurses oder auch in der Einzeltherapie, hilft hier in vielen Fällen gut. Auch in meinen Rückbildungskursen berichten das die Frauen erstaunt immer wieder. Zudem regt das Training die Wahrnehmung und die Durchblutung auch der Schleimhäute an und kann sich positiv auf die Libido auswirken, wie manche Frauen ebenfalls berichten.

Erkrankungen, die die Sexualität beeinträchtigen

Doch es gibt auch ernstere Erkrankungen, die sich negativ auf die Sexualität auswirken. Dazu gehört bei den Männern der Prostata-Krebs, nach dessen operativer Entfernung es nicht nur zu Inkontinenz kommen kann, sondern auch die Erektionsfähigkeit eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden sein kann. Bei der Operation ist es manchmal unvermeidlich, dass auch Nervenbahnen verletzt oder entfernt werden müssen. Der Chirurg oder die Chirurgin kann am besten einschätzen, ob und wann nach der OP Sex wieder möglich ist. Wenn die Erektionsfähigkeit ganz oder zumindest teilweise vorhanden ist, sollte aber, nach Abschluss der Wundheilung und Absprache mit dem Operateur / der Operateurin, nicht zu spät mit dem ‚Üben‘ angefangen werden. Die Muskulatur, die für die Schwellkörper im Penis zuständig ist, kann bei zu langer Pause und ohne die normalerweise automatisch auftretenden regelmäßigen Erektionen ihre Kraft verlieren. Es muss ja nicht sofort Geschlechtsverkehr mit Penetration sein. Auch andere Varianten der Zweisamkeit und die Masturbation können gute und entspannte Übungsmöglichkeiten bieten.

Wenn die Erektionsfähigkeit eingeschränkt ist, gibt es verschiedene Hilfsmittel. Dazu gehört zum Beispiel die Penispumpe, die in einigen Fällen ärztlich verordnet werden kann. Auch Viagra oder Ähnliches kann zum Einsatz kommen. Die Beratung übernehmen am besten die behandelnden Urolog*innen.

Vermutlich weiter verbreitet als viele denken, weil es ein großes Tabuthema unter Männern ist, ist die Erektile Dysfunktion, von einigen auch fälschlicherweise als Impotenz bezeichnet. Die ED kann verschiedenste Ursachen haben und sollte unbedingt ärztlich abgeklärt werden. Wenn körperliche Ursachen ausgeschlossen sind und Stress bereits reduziert wurde, kann in einigen Fällen Beckenbodentherapie durch Kräftigung und auch Entspannung der Beckenbodenmuskulatur hilfreich sein. Auch Sexualtherapeut*innen sind hier eine gute Adresse.

Organsenkungen können bei jüngeren und älteren Frauen auftreten und beeinflussen das Sexualleben natürlich ebenfalls. Geschlechtsverkehr kann unangenehm sein und Angst vor Inkontinenz kann die Lust verderben. Ärztliche Abklärung, Physiotherapie und ein Pessar können hier helfen.

Zu viel

Eine zu hohe Spannung in der Beckenbodenmuskulatur ist ebenfalls ein häufiges Problem, das manchmal übersehen wird und bei Männern und Frauen auftritt. Hohe Spannung hat nichts mit großer Kraft zu tun. Im Gegenteil, ein Muskel mit zu hoher Spannung kann seine Kraft oftmals nur schlecht entfalten. Bei zu hohem Tonus ist die Durchblutung schlechter und die Reaktionsfähigkeit ebenso. Entspannungsfähigkeit ist für den Beckenboden mindestens genauso wichtig, wie gute Ansteuerung und Kraft.

In der Behandlung ist hier auch die Atmung ein wichtiges Thema. In meinem Artikel zum Thema Atmung und Beckenboden ist der Zusammenhang genauer erklärt. Und auch in der Sexualität spielt die Atmung eine große Rolle. Luftanhalten oder Spannung aufbauen ohne zwischendurch wieder zu entspannen und Bewegung zuzulassen, kann sich negativ auswirken – auch bei Schmerzen.

Schmerzproblematiken, wie Beckenschmerzen, Vaginismus, Anismus, Interstitielle Cystisit/Bladder Pain Syndrome, Prostatitis, Vulvodynie und weitere gehen häufig mit einer erhöhten Spannung und fehlender Entspannungsfähigkeit einher. Auf das Thema Schmerzen im Beckenbodenbereich und die verschiedenen Erkrankungen werde ich in einem weiteren Artikel ein anderes Mal genauer eingehen, weil das den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.

Wer nach auf die Beckenbodentherapie spezialisierten Physiotherapeut*innen sucht, dem empfehle ich wieder einen Blick auf die Therapeutenliste der AG GGUP zu werfen.           http://www.ag-ggup.de/therapeutenliste

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Lucia Sollik / Physiotherapeutin / Beckenbodentherapie

Veröffentlicht von beckenbodenphysiolucy

Ich bin Physiotherapeutin, spezialisiert auf die Beckenbodentherapie und arbeite angestellt in einer Praxis.

Ein Kommentar zu “Sexualität als Thema in der Physiotherapie?

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