In meinen Blog-Artikeln habe ich mir bisher die Freiheit genommen, keine Quellen für meine Aussagen anzugeben. Das liegt zum einen daran, dass ein Blog ganz klar eine persönliche Meinung, beruhend auf der Erfahrung und dem Wissen der Schreibenden widerspiegelt, zum anderen daran, dass es Zeit und Mühe kostet, die entsprechenden Studien zusammenzutragen. Das will ich nun aber, Stück für Stück, nachholen.
Die Artikel zum Thema Geburtsverletzungen waren meine ersten und mit Studien dazu möchte ich auch diesmal beginnen. Hier zuerst nochmal der direkte Link zu den Blog-Artikeln:
https://beckenbodenphysiotherapielucyreport.news.blog/2020/01/30/geburtsverletzungen/
https://beckenbodenphysiotherapielucyreport.news.blog/2020/01/31/geburtsverletzungen-teil-2/
Ihr bekommt nun kurze Zusammenfassungen verschiedener Studien rund um das Thema Geburtsverletzungen. In den letzten Jahren hat sich die Studienlage glücklicherweise immer weiter verbessert. Die ausgewählten Studien sind alle relativ neu, es gibt aber sicherlich noch viele weitere Studien dazu.
In dieser Studie von 2018 https://link.springer.com/article/10.1007/s00192-018-3616-4 wurde untersucht, wie sich eine Geburt noch 20 Jahre später auswirkt. Es wurde dabei festgestellt, dass die erste vaginale Geburt für eine Frau das größte Risiko für eine Avulsion, also eine Verletzung des Levator ani (welcher einen großen Teil der Beckenbodenmuskulatur darstellt) oder eine Verletzung des äußeren analen Schließmuskels, birgt. Weitere Geburten haben selten zu weiteren Verletzungen geführt.
Eine andere Studie von 2020 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30272594/ hat untersucht, wie sich eine Levator-Avulsion 5 – 15 Jahre nach der Geburt auf verschiedene Faktoren auswirkt. Verglichen wurde mit Frauen, die eine vaginale Geburt ohne Verletzung hatten. Untersucht wurde mittels Beckenbodenultraschall. In dieser Studie hatten 15% der teilnehmenden Frauen eine Avulsion. Die Verwendung einer Geburtszange führte zu einer deutlich erhöhten Rate von Verletzungen. Frauen mit einer Avulsion hatten einen weiteren genitalen Hiatus (mehr Weite im Scheidenbereich) und einen deutlich schwächeren Beckenboden.
Auch diese Studie von 2019 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30285979/ untersuchte die Folgen einer vaginalen Geburt. Die Teilnehmerinnen wurden 6 – 17 Jahre nach der Geburt untersucht. Ungefähr 10 – 30 % der Frauen erleiden bei der vaginalen Geburt eine Levator-ani-Avulsion, verglichen wurde wieder mit Frauen, die keine Verletzung erlitten hatten. Ziel der Studie war es herauszufinden, welche weiteren Folgen eine Avulsion hat. Auch in dieser Studie wurde festgestellt, dass 15% der Teilnehmerinnen eine Avulsion hatten, der Einsatz einer Geburtszange führte zu einer größeren Häufigkeit einer Verletzung. Es wurde außerdem festgestellt, dass bei einer Avulsion signifikant häufiger eine Organsenkung vorkommt als ohne. Weitere Beckenbodendysfunktionen, wie Urin- oder Stuhlinkontinenz waren in dieser Studie nur wenig häufiger zu finden als in der Vergleichsgruppe.
Diese Studie von 2018 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29749657/ untersuchte, wie sich der Kristeller-Handgriff, also der Druck auf den Bauch mit Schub nach unten während der letzten Geburtsphase, auf die Häufigkeit von Beckenbodenverletzungen auswirkt. Der Kristeller-Handgriff wird angewendet, um die Geburt zu beschleunigen. In der Studie wurden Frauen direkt nach der ersten Geburt untersucht. In der Vergleichsgruppe waren Frauen, die ebenfalls ihr erstes Kind geboren hatten, jedoch ohne Einsatz des Kristeller. Bei Einsatz des Handgriffes war die Häufigkeit einer Avulsion deutlich erhöht. Es sollte also gut überlegt werden, in welchen Fällen er zum Einsatz kommen sollte.
In Schweden wurde 2019 eine Studie https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30799061/ veröffentlicht, in der verglichen wurde, wie häufig es zu Stuhlinkontinenz nach vaginaler Geburt oder Kaiserschnitt kommt. In dieser Studie wurden die Gesundheitsdaten von 3 755 110 Frauen, die in der Zeit zwischen 1973 und 2015 geboren hatten inkludiert. Verglichen wurde mit Frauen, die keine Kinder geboren hatten. In der Gruppe nach Kaiserschnitt litten 22% der Frauen unter Stuhlinkontinenz, in der Gruppe nach vaginaler Geburt 37%. Die vaginale Geburt stellte den größten Risikofaktor für die Entstehung einer Stuhlinkontinenz dar. Weitere Risikofaktoren waren hohes Alter der Mutter, hohes Geburtsgewicht des Kindes und die Verwendung von Geburtsinstrumenten. In der Gruppe nach Kaiserschnitt war der einzige Risikofaktor das Alter der Mutter.
Eine weitere Studie von 2018 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30561480/ untersuchte die Auswirkungen verschiedener Geburtsmodi. Die Teilnehmerinnen hatten ihre Kinder 5 – 10 Jahre vor Beginn der Studie geboren und wurden bis zu 9 Jahre lang begleitet. Die Frauen wurden in drei Gruppen eingeteilt: Kaiserschnittgeburt, vaginale Spontangeburt und vaginale Geburt mit Einsatz von Geburtszange oder Saugglocke. Bei spontaner vaginaler Geburt litten nach erster Geburt 34,3 % unter Belastungsinkontinenz, 21,8 % unter einer überaktiven Blase (OAB, Drangblase), 30,6 % unter Stuhlinkontinenz und 30 % unter einer Organsenkung. Nach Kaiserschnitt lag die Rate deutlich niedriger, nach vaginaler operativer Geburt (Einsatz von Geburtsinstrumenten) war die Rate deutlich höher. Je weiter der genitale Hiatus (Weite im Scheidenbereich), desto größer die Gefahr einer Organsenkung.
Diese Studie von 2019 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30656361 untersuchte die Verlässlichkeit der Untersuchung einer Organsenkung in Rückenlage. Es wurde durch Kernspinuntersuchung im Stand festgestellt, dass im Stehen eine Organsenkung erheblich deutlicher wird als im Liegen und eine Senkung bei Untersuchung im Liegen häufig unterschätzt wird.
Nachdem diese Studien alle nicht sonderlich positiv klingen, gibt es aber auch gute Nachrichten. In einer Studie von 2020 https://obgyn.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/aogs.14010 wurde untersucht, wie sich ein moderates Beckenbodentraining während der Schwangerschaft auf die Häufigkeit einer Harninkontinenz 3 Monate nach der Geburt auswirkt. In der Übungsgruppe litten nach der Geburt 28 % an einer Harninkontinenz, in der Kontrollgruppe 38 %. Bei den Frauen, die bereits während der Schwangerschaft an Harninkontinenz litten waren es nach der Geburt in der Übungsgruppe noch 44 %, in der Kontrollgruppe noch 59 %. Risikofaktoren für eine Harninkontinenz waren das Alter der Mutter, das Geburtsgewicht des Kindes und Verletzungen des Beckenbodens oder analen Schließmuskels. Ein Kaiserschnitt senkte das Risiko einer Harninkontinenz deutlich.
Ein Kaiserschnitt ist trotz allem ein operativer Eingriff, der ebenfalls Gefahren birgt und auch keinesfalls schmerzfrei ist, auch wenn es hier eben mehr die Wundschmerzen wegen des Bauchschnitts sind. Ich möchte also keinesfalls in jedem Fall zu einem Kaiserschnitt raten. Eine gute Geburtsvorbereitung und eine gute Beratung zu individuellen Gefahren und eine Abwägung der jeweiligen Risiken finde ich jedoch für jede Frau empfehlenswert. Und wenn es doch zu Verletzungen und Problemen gekommen ist, egal nach welcher Art von Geburt oder sogar ganz unabhängig davon, dann empfehle ich unbedingt eine ärztliche Abklärung.
Im Dezember 2020 ist eine neue Leitlinie zur Geburt erschienen. Sie heißt ‚Die vaginale Geburt am Termin‘ https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-083.html . Hier steht unter anderem, dass die Rückenlage nicht als Geburtsposition empfohlen wird und der Fundusdruck, oft auch Kristeller genannt, nur im Notfall angewendet werden sollte. Ein routinemäßiger Dammschnitt soll nicht vorgenommen werden, sondern nur wenn er auch indiziert ist. Bei der Leitlinie handelt es sich um eine sogenannte S3 Leitlinie, das heißt mit höchster Evidenz. Sie ist wirklich lesenswert und ich hoffe, dass sie von allen Hebammen und Geburtshelfern gelesen wird.
Es wäre wünschenswert, dass mehr Gynäkolog*innen den Beckenbodenultraschall routinemäßig zur Untersuchung von Geburtsverletzungen nutzen, gezielt fragen, ob Probleme bestehen und bei Bedarf Pessare und Physiotherapie verordnen. Aber nachfragen sollte jede Frau, die bei sich Symptome einer Senkung oder Inkontinenz oder andere Probleme festgestellt hat.
Spezialisierte Physiotherapeut*innen findet ihr unter http://www.ag-ggup.de/therapeutenliste.
Lucia Sollik / Physiotherapeutin / Beckenbodentherapie
Wow toll!!! Ganz lieben Dank für den großartigen Artikel!
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