Ob bei Inkontinenz, Organsenkung oder nach einer Geburt – eine Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur ist häufig eines der Ziele in der Beckenbodentherapie. In den letzten Jahren sind auch hierzu glücklicherweise immer mehr Studien gemacht worden. Die Wirksamkeit ist inzwischen gut belegt, auch wenn sich das scheinbar leider noch nicht bei allen Ärzt*innen herumgesprochen hat. Einige dieser Studien möchte ich hier vorstellen. Beginnen werde ich allerdings mit einer Leitlinie. Leitlinien sollen Ärzte*innen und Therapeut*innen einen Handlungsleitfaden geben, der auf dem aktuellen Wissensstand beruht, so dass es dadurch nicht zwingend notwendig ist, sämtliche Studien zu einem Thema zu kennen. Gute und aktuelle Leitlinien stellen eine enorme Arbeitserleichterung dar, wenn man sich einen Überblick verschaffen möchte.
Die AWMF ist eine Organisation, die medizinische Leitlinien erstellt. Diese sind auf der Homepage der AWMF hier zu finden und für jeden nachzulesen: https://www.awmf.org/awmf-online-das-portal-der-wissenschaftlichen-medizin/awmf-aktuell.html
Zur Belastungsinkontinenz findet sich dort im Moment zwar nur eine etwas ältere Fassung, wir warten seit einiger Zeit auf die Neufassung, aber auch diese ist durchaus aussagefähig. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/015-005.html Wer eine kurze aber gute Übersicht haben möchte, kann sich einfach die Kurzfassung ansehen. Dort steht auf Seite 2 unten, dass Patientinnen mit Belastungsinkontinenz die Pessartherapie als Therapieoption angeboten werden sollte. Auf Seite 3 geht es um das Beckenbodentraining, welches absolut empfohlen wird mit Evidenz Grad 1a. Das Training wird sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Frauen und auch vor einer Geburt empfohlen. Eine Dauer von drei Monaten steht hier als Empfehlung. Grundlage dieser S2e Leitlinie ist die Evidenz nach aktueller Studienlage.
Diese Studie von 2018 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29844662/ hat in einer systematischen Literaturanalyse mit 2400 Teilnehmerinnen untersucht, wie sich Beckenbodentraining bei Frauen mit Inkontinenz auf die Lebensqualität auswirkt. Es wurde festgestellt, dass das Training effektiv in der Behandlung von Harninkontinenz ist und sich positiv auf die Lebensqualität der Frauen auswirkt, was wichtig für physische, mentale und soziale Funktionen ist. Die Lebensqualität leidet bei Inkontinenzbetroffenen in besonderem Maße und sollte deshalb bei der Veranlassung von Therapie eine wichtige Rolle spielen.
Eine weitere Studie von 2018 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/30288727/ hat in einem Cochrane Review untersucht, wie sich Beckenbodentraining im Vergleich zu keiner Behandlung oder einer Scheinbehandlung bei Patientinnen mit Harninkontinenz auswirkt. Zudem sollte untersucht werden, wie die Kosteneffektivität aussieht. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass sich Beckenbodentraining bei allen Formen von Harninkontinenz positiv auswirkt, zur Heilung oder Verbesserung der Symptome führt und die Lebensqualität deutlich verbessert. Die Kosteneffektivität sieht vielversprechend aus, sollte aber weiter untersucht werden. Die Ergebnisse legen nahe, dass das Beckenbodentraining als erste Behandlungsmethode bei Inkontinenz eingesetzt werden sollte.
Ein systematisches Review mit Metaanlalyse von 2016 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26407564/ untersuchte den Effekt von Beckenbodentraining bei Senkungsbeschwerden. Insgesamt wurden 13 Einzelstudien mit 2340 Teilnehmerinnen ausgewertet. Es zeigte sich eine deutliche Besserung der Beschwerden, die mit Organsenkungen in Verbindung stehen. Kraft und Ausdauer der Beckenbodenmuskulatur verbesserten sich ebenfalls.
Eine andere Studie aus dem selben Jahr https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/26996291/ untersuchte die Kosteneffektivität und Wirksamkeit von Beckenbodentraining im Vergleich zum beobachtenden Abwarten bei leichter Organsenkung über 2 Jahre hinweg. Die Teilnehmerinnen waren 55 Jahre und älter. Es wurde festgestellt, dass sich in der Trainingsgruppe die Beschwerden deutlich besserten und die Betroffenen auch weniger belastet durch die Organsenkung waren. Zudem sparten sie deutlich an Kosten für Inkontinenzprodukte wie Vorlagen. Die Autoren sprachen sich für eine Therapie auch bei leichter Organsenkung aus, wenn diese Beschwerden verursachten.
2019 versuchte eine Studie https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31717291/ herauszufinden, welche Intensität optimal für das Beckenbodentraining bei Harninkontinenz wäre. Hierzu wurde ein breit angelegtes systematisches Review mit Metaanalyse gemacht. Das Ergebnis war, dass es in den bisherigen Studien kein einheitliches Vorgehen gab, es jedoch in jedem Fall zu einer Kräftigung und Besserung von Symptomen kam. Jedoch empfehlen sie für eine größere Effektivität Programme die 6 – 12 Wochen dauern und mindestens 3 x pro Woche für bis zu 45 Minuten ausgeführt werden.
Eine Studie von 2020 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33289476/ untersuchte an 2 Gruppen mit jeweils ungefähr 230 Teilnehmerinnen den Unterschied zwischen reinem Beckenbodentraining und Beckenbodentraining kombiniert mit Biofeedback für zu Hause. Beide Gruppen erhielten 6 Termine mit Anleitungen und Verhaltenstechniken verteilt über 16 Wochen. In beiden Gruppen verbesserten sich die Symptome ähnlich gut. Ein Vorteil des zusätzlichen Biofeedbacktrainings ließ sich nicht feststellen, auch wenn es gut angenommen und insgesamt zu einem guten Ergebnis geführt hatte. Aber auch diese Studie zeigte, dass das Training in jedem Fall hilfreich ist.
2018 untersuchte eine Studie https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/30592502 , ob sich die Beckenbodenmuskulatur durch den Einsatz anderer Muskelgruppen kräftigen lässt. Es wurde festgestellt, dass keine der getesteten Übungen so effektiv war, wie das gezielte Training des Beckenbodens. Hilfsmuskulatur zu trainieren, mit dem Ziel die Kraft des Beckenbodens zu steigern, wird nicht empfohlen.
Dagegen stellte eine klinische Studie https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32703614/ von 2020 fest, dass die Kombination von Beckenbodentraining und Hüftmuskeltraining sich positiv auf den Urinverlust bei Frauen mit Belastungsinkontinenz auswirkte. Es gab jedoch keinen Unterschied zur Kontrollgruppe, die nur Beckenbodentraining ausführte, was Kraftzuwachs und Lebensqualitätsverbesserung anging.
Hier war der Artikel eigentlich bereits fertig und auch schon veröffentlicht. Am nächsten Tag bekam ich allerdings eine Mail von Pedro, einer Studienseite, die auch Newsletter verschickt, und deshalb kommen jetzt noch ein paar weitere Studien von 2020 dazu.
Diese Studie https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33218562/ untersuchte in einem systematischen Review, ob neben dem Beckenbodentraining, welches als Gold-Standard in der Behandlung von Beckenbodendysfunktionen gilt, auch andere Übungsformen wirksam sind. Pilates, die Paula Methode (die mir bisher unbekannt war) und Hypopressive wurden dazu genauer betrachtet. Das Ergebnis war, dass diese Methoden alleine nicht effektiv sind, den Beckenboden zu kräftigen, sondern nur, wenn sie mit Beckenbodentraining kombiniert sind. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass das Beckenbodentraining weiterhin der Standard sein sollte.
Dazu passend habe ich noch eine Studie von 2018 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/29248338/ gefunden, welche die Hypopressive Methode in einem systematischen Review genauer untersuchte. Hypopressive wird zum Beispiel in Spanien häufig auch zur Rückbildung angewendet. Die Evidenz unterstützt keine Empfehlung dieser Methode zur Kräftigung des Beckenbodens, jedoch merkten die Autoren an, dass die Qualität der zur Verfügung stehenden Studien nicht sehr gut war.
Eine weitere Studie von 2020 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/32187704/ wollte herausfinden, wie sich die Begleitung einer App zum Beckenbodentraining im Vergleich zu Erinnerungen per Post auswirken. Das Ergebnis war, dass sich das Training und die Erinnerungen per App positiv auf die Inkontinenz und das längerfristige Dranbleiben auswirkte.
An einem klinischen Versuch https://search.pedro.org.au/search-results/record-detail/62914 nahmen 2020 600 Frauen teil. Es wurde untersucht, ob es einen Unterschied in der Behandlung von Inkontinenz gibt zwischen reinem Beckenbodentraining und Beckenbodentraining kombiniert mit Biofeedback. Das Ergebnis war hier, dass es keinen generellen zusätzlichen Nutzen durch das Biofeedback gab. In einigen Fällen ist die Nutzung aber sicherlich hilfreich.
Insgesamt besteht nach Studienlage kein Zweifel, dass ein gezieltes Beckenbodentraining bei Inkontinenz und Senkungsbeschwerden hilfreich ist. Weitere Studien sind natürlich notwendig, besonders auch, um herauszufinden, welche Übungen und welche Form des Trainings besonders effektiv sind. Das heißt, dass auch wir Therapeut*innen nie auslernen, immer wieder gefordert sind unsere Therapie neu zu überdenken und neue Erkenntnisse zu integrieren. Regelmäßige Fortbildung und eben das Lesen von Studien und Leitlinien sind dafür wichtig.
Lucia Sollik / Physiotherapeutin / Beckenbodentherapie