Darmprobleme – das große Tabu

In Deutschland gibt es schätzungsweise 4 Millionen Menschen, die unter einer Stuhlinkontinenz leiden. Viele weitere haben Probleme mit Obstipation, also regelmäßiger Verstopfung oder haben einen Reizdarm, Hämorrhoiden, Analfissuren, Schmerzen im Bereich des After oder gar einen Analprolaps. Die Liste der Erkrankungen und Probleme, die den letzten Teil unseres Verdauungstraktes betreffen, ist lang. Die meisten Betroffenen warten jedoch lange, bis sie einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen. Sie schämen sich und haben das Gefühl alleine zu sein mit diesem Problem. Denn obwohl es so viele Betroffene gibt, wird darüber noch weniger gesprochen als über Harninkontinenz.

Mit dem Tabu brechen

Vereinzelt wird mittlerweile mit dem Tabu gebrochen. Das Buch ‚Darm mit Charme‘ informiert auf unterhaltsame Weise über das Thema. Auch Schwesterfraudoktor hat einen spannenden Blogbeitrag zum Thema veröffentlicht. (https://www.schwesterfraudoktor.de/2020/02/15/im-stuhl-vereint/ ) Gut wäre es meiner Meinung nach, wenn vor allem Hausärzt*innen immer wieder nachfragen, ob es Probleme mit Darm oder Blase gibt. Je früher behandelt wird, desto besser lassen sich Probleme beheben und die Lebensqualität wieder steigern. Und immerhin ist eine Inkontinenz, vor allem eine Stuhlinkontinenz, der häufigste Grund, warum ältere Menschen in ein Pflegeheim kommen.

Eine große Belastung

Wer noch nie Probleme mit der Verdauung oder Entleerung hatte, kann vielleicht nicht nachvollziehen, wie belastend so etwas für Betroffene sein kann, wie erlösend und erleichternd ein guter Stuhlgang bei wiederkehrender Verstopfung ist und wie einschränkend für Aktivitäten und Sozialleben Durchfälle bei Reizdarm oder eine Stuhlinkontinenz sind. Betroffene verlassen morgens ungern das Haus, bevor sie nicht auf der Toilette waren, trauen sich nicht ins Theater, haben Angst vor längeren Autofahrten, erkunden überall zuerst, wo die Toiletten sind und haben immer Angst, jemand könnte ‚etwas riechen‘.

Aus verschiedensten Gründen zur Beckenbodentherapie

Zu mir kommen Patient*innen mit den unterschiedlichsten Problemen. Meist unkompliziert in der Behandlung sind Patient*innen, die nach einer Darmoperation für einige Zeit ein Stoma, also einen künstlichen Darmausgang, bekommen haben. Bevor dieser wieder zurückverlegt wird, sollte der Schließmuskel gekräftigt werden, um eine Stuhlinkontinenz zu vermeiden. Wenn die Muskulatur für einige Zeit nichts zu tun hatte, verliert sie automatisch Kraft. In den meisten Fällen funktioniert nach einigen Wochen Training hinterher alles wieder (fast) wie früher.

Schwieriger wird es, wenn ein Tumor im Enddarmbereich entfernt werden musste und nicht viel Abstand zwischen OP-Bereich und Schließmuskel ist. Der sogenannte Analkanal, also der Bereich oberhalb der Schließmuskulatur, hat unter anderem die wichtige Aufgabe zu spüren, welche Konsistenz das Material hat, welches aus dem Darm hier ankommt. Ist es gasförmig, flüssig oder fest?

Worauf sich die meisten Patienten nach einer Darmoperation mit Entfernung eines Teils des Dickdarms einstellen müssen, sind häufigere Darmentleerungen mit kleineren Mengen. Ist der Dickdarm kürzer, kann er nicht mehr so viel Wasser entziehen, so dass die Konsistenz eventuell weicher oder flüssiger sein kann. Zu flüssiger oder zu fester Stuhl sollte mit dem Arzt besprochen werden. Über Ernährung oder Medikamente kann hier gegengesteuert werden.

Essen, Trinken und Toilettenverhalten

Darüber, welchen Einfluss das Essen, die Trinkmenge und das Toilettenverhalten auf unseren Körper haben, denken die meisten Menschen erst nach, wenn sie Probleme haben. Speziell darüber, wie wir uns beim Toilettengang verhalten, denkt kaum jemand nach und darüber unterhält man sich auch nicht. (Außer beim Proktologen oder bei der Beckenbodentherapie.) Jeder Mensch reagiert unterschiedlich auf Nahrungsmittel. Unverträglichkeiten sind jedoch relativ weit verbreitet. Laktose, Fructose, Histamin, Gluten – die Liste ist lang. Manch ein vermeintlicher Reizdarm oder Durchfall wird durch eine noch nicht erkannte Unverträglichkeit hervorgerufen. Besteht der Verdacht oder ist die Ursache für Beschwerden unklar, sollte das bei Arzt oder Ärztin abgeklärt werden. Und auch eine Verstopfung kann durch bestimmte Lebensmittel begünstigt werden.

Eine ausreichende Trinkmenge hilft auch dem Darm bei seiner Arbeit. Die Empfehlungen variieren und sind auch abhängig von Faktoren wie Körpergröße, Gewicht, Beruf (viel Schwitzen, viel Sprechen), weiteren Erkrankungen, Sport und anderen Dingen. In den meisten Fällen liegt man mit 1 1/2 bis 2 1/2 Litern pro Tag in einem guten Bereich.

Wie häufig wir Stuhlgang haben ist individuell verschieden. Von ein paar Mal am Tag bis zu nur alle drei Tage ist alles normal. Zumindest, wenn keine Beschwerden vorhanden sind. Auch die Passagezeit, also die Zeit, bis etwas, das wir essen verdaut ist und wieder entleert wird, ist unterschiedlich. Zwischen 12 und 72 Stunden kann alles normal sein. Vor einiger Zeit hatte ich eine Patientin mit einer Passagezeit von über 100 Stunden, das ist definitiv zu lang.

Beim Toilettengang selbst lohnt es sich zu beobachten, wie man sich dabei verhält. Drücken und Pressen sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Zum Pressen neigen Menschen mit Verstopfung oder diejenigen, die denken, keine Zeit zu haben. Der Druck im Bauchraum steigt durch das Pressen, allerdings spannen sich Bauch- und Beckenbodenmuskulatur automatisch mit an, was die Entleerung erschwert und nicht erleichtert, zudem Beckenboden und Beckenorgane belastet. Eine andere Sitzhaltung kann sich hierfür positiv auswirken. Die Beine etwas erhöht auf einem Hocker, die Hände auf die Oberschenkel gestützt und der Bauch entspannt, sind etwas, das sich lohnt auszuprobieren. Was für einen Unterschied ein Hocker für die Beckenbodenmuskulatur macht ist anschaulich in meinem Lieblingswerbevideo von meinem Lieblingseinhorn von Squatty Potty gezeigt. https://youtu.be/YbYWhdLO43Q. Alleine durch falsches Toilettenverhalten können Hämorrhoiden und weitere Probleme entstehen. Immerhin haben wir drei- bis siebenmal wöchentlich Stuhlgang. Über die Jahre ist die Belastung durch Pressen und Drücken nicht zu unterschätzen.

Alt und Jung betroffen

In die Praxis kommen ältere und jüngere Patient*innen, Frauen, Männer und Kinder. Generell glauben zwar viele, es wären nur alte Menschen betroffen, aber das stimmt nicht. Junge Frauen nach einem Dammriss 3. oder 4. Grades brauchen neben der normalen Rückbildung auch Tipps und Übungen, die den Schließmuskel des After mit einschließen. Eine Windinkontinenz, also die Unfähigkeit Pupse zurückzuhalten, kann peinlich und sehr belastend sein. Und keine junge Frau möchte mit Stuhlinkontinenz kämpfen, während sie dem eigenen Kind erklärt, wie man eine Toilette benutzt. Hier ist zusätzliche Physiotherapie sinnvoll. (Spezialisierte Physiotherapeut*innen finden sich wieder unter http://www.ag-ggup.de/therapeutenliste.)

Operationen können jedes Alter betreffen und häufig kann Physiotherapie unterstützen und helfen. Auch Schmerzen durch Analfissuren oder Stuhlschmieren kommen in allen Altersgruppen vor und sind für die Betroffenen belastend. In der Therapie geht es meist sowohl um Kräftigung als auch um Entspannung und ein gutes Entleerungsverhalten. Maßnahmen zur Anregung der Peristaltik kommen bei Verstopfung oder langer Passagezeit zum Einsatz. Essen, Trinken und Hygiene sind weitere Themen in der Therapie. Als Physiotherapeutin kann ich hier nur allgemeine Informationen und Tipps geben und bei Bedarf an den Arzt oder Ärztin verweisen, die gegebenenfalls weitere Maßnahmen veranlassen können. Diese können bei Bedarf auch Hilfsmittel wie Analtampons, zur Vermeidung von unkontrolliertem Stuhlverlust oder ergänzend zur Therapie ein Elektrotherapie-Gerät für zu Hause verordnen.

Überlastung durch häufiges sehr schweres Heben oder extremen Sport können ebenfalls zu Problemen bis hin zu einem Analprolaps auch bei jungen Menschen führen. Frauen sind hierfür anfälliger. Besonders im Leistungssport, beim Gewichtheben und CrossFit kommt Inkontinenz häufiger vor.

A real pain in the ass

Schmerzen im Bereich des Anus sind kein Spaß und sollten unbedingt ärztlich abgeklärt werden. Ob durch Hämorrhoiden, Analfissuren, Sturz auf’s Steißbein, Verletzungen bei einer Geburt, Coxalgia fugax oder Anismus, also krampfartige Schmerzen – Schmerzen sind belastend, besonders wenn sie über längere Zeit bestehen. Auch hier kann Physiotherapie in vielen Fällen hilfreich sein. Die Behandlung ist bei Schmerzen immer individuell, beinhaltet jedoch meist Aufklärung über Schmerz, Bewegung, Entspannung und Atemübungen. Anfangs ist eine Behandlung direkt im Schmerzbereich oftmals hilfreich.

Scheißthemen

Wenn Patient*innen zur ersten Behandlung kommen, haben sie manchmal Hemmungen über ihre Inkontinenz und ihren Stuhlgang zu sprechen. Die anfängliche Scham weicht aber meist schnell der Erleichterung, mit jemandem über die Problematik reden zu können und Informationen, Hilfe und die passenden Übungen zu bekommen. Wenn die Beschwerden weniger werden oder sogar verschwinden, ist das für Betroffene ein ganz neues Lebensgefühl. Eine Patientin meinte während der Therapie einmal ‚Wir haben aber auch immer Scheißthemen!‘ Stimmt, aber die sind wichtig!

Kinder und Verstopfung

Auch Kinder kommen zur unterstützenden Behandlung in die Beckenbodentherapie. Die Gründe können Harninkontinenz, Stuhlinkontinenz, Stuhlschmieren oder auch Verstopfung sein. Bei einer Harninkontinenz wird ärztlich immer untersucht, ob eine Verstopfung vorliegt. Das kommt bei Kindern häufig vor und muss immer als Erstes behandelt werden, sonst hat man es schwer eine Harninkontinenz in den Griff zu bekommen. Bei Stuhlinkontinenz oder Stuhlschmieren und auch bei der Obstipation geht es um ein gutes Toilettenverhalten, mehr Wahrnehmung, ein gutes Ess- und Trinkverhalten, mehr Bewegung besonders im Beckenbodenbereich, eine spielerische Aktivierungen der Muskulatur und Entspannung. Kinder zu behandeln macht mir viel Spaß, ist aber immer eine besondere Herausforderung.

Abschließend möchte ich betonen, dass es für Ärzt*innen und spezialisierte Physiotherapeut*innen nie unangenehm ist, über diese Themen zu sprechen. Patient*innen sollten also keine Hemmungen haben sich bei Problemen Hilfe zu suchen.

Lucia Sollik Physiotherapeutin / Beckenbodentherapie

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Veröffentlicht von beckenbodenphysiolucy

Ich bin Physiotherapeutin, spezialisiert auf die Beckenbodentherapie und arbeite angestellt in einer Praxis.

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